Blindflug -Tunnelblick

zum briefkasten mit nackten füssen, die nasse kälte auf den pflastersteinen, körnige streu vom letzten schneefall, ein wind geht heute morgen und schüttelt den Garten, sehe ich überhaupt noch was, ich nehme es am rande wahr. der zeuge hat sich nicht vôllig davon gemacht, aber das ritual bleibt leer, ich trinke den Kaffee und merke zerstreut, er ist zu lehmig, zu bitter für die bialetti, der knoopes fehlt mir und die zeitung blättere ich durch, als sei ich blind geworden, die üblichen gesichter auf den fotos, schlagzeilen, die meine aufmerksamkeit nicht bekommen, es kratzt nur am äussersten sehfeld, was sonst den anfang eines gesprächs ausmachte, das nach drei sätzen abbrach: „hatten wir doch schon“ und „alles längst gesagt“, der „herr der gecshichte“, so pflegten wir festzustellen bei allem undurchsichtig offenbaren, „spielt im verborgenen mit verdeckten karten“ und „die durchgeknallten sind an der macht“.

manchmal sagte dann einer von uns, es wechselte, wie auch sonst die rollen wechselten, mann/frau, wer was gerade war, wahr oder nicht wahr, das war wenigstens mir nie ganz klar: „die macht ist launisch, wie die geschichte zeigt, setzt sie sich fest für einige zeit und zieht weiter, hinter sich die trümmerfelder der illusion und das leiden der vielen“.

so hofften auch wir …

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Karl Ballmer

heute morgen ist, wie gesagt, alles anders, tunnelblick-blindflug denke ich, als ich die rauen Pflastersteine an den Füssen spüre, die Kälte tut gut, ich lebe noch, denke ich, aber das ritual ist leer, ich hole die zeitung aus gewohnheit, eigentlich nur, weil ich  die bilder der gestorbenen sehen möchte, das sterbealter bedenkend, neunzehnhundertdreiundsechzig geboren, neun jahre jünger als sie, „nach langer krankheit“, und ich frage mich, warum tue ich mir das an, bis ich auf ihren namen stosse, marie z., und ich sitze vor meinem kalt gewordenen kaffee und denke gar nichts mehr.

der rest der zeitung ist  kalter kaffee und das virtuelle blättern fällt ganz weg. draussen schüttelt der wind den Tuja des nachbarn und der Kirschbaum wackelt mit, neben mir auf dem stuhl am küchentisch schnurrt neuerlich eine katze, sie geht und kommt, wann sie will, sie streicht mir um die füsse und verschwindet im keller; ich wollte nie haustiere, nun lausche ich nachts, wenn ich aufwache und nicht mehr einschlafen kann, ihrem tappsen im treppenhaus, ihrem maunzen, ihrem rascheln und sanften scharren, ihrem teppichkratzen und ich weiss, morgen werden die enkelinnen mich überreden, eine neue folge von simon’s cat anzusehen.

seit sie weg ist, hat sich die welt verkleinert, obwohl ich noch immer den unmut in mir hochsteigen fühle, wenn ich gewisse transatlantische facies beim umblättern der morgenzeitung mit dem blick streife. ich höre dann ihre stimme, „dazu haben wir schon alles nötige gesagt“.

 

 

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