anlauf I
erinnerung 1
an die vorbereitung einer schulreise nach venedig (das ist mir heute nicht mehr ganz verständlich, aber damals sah man die stadt fast noch zwischen all den leuten), da stand ich mit Marie vor einem sehr kleinen bild, das eine rolle spielt im roman Die Rote von Alfred Andersch (ob der heute noch ganz korrekt ist?)) und vor uns, die sicht definitiv einschränkend steht ein paar und er liest ihr aus dem baedecker vor, was sie zu sehen hat, so klang das nämlich. ich war verwundert, vielleicht bin ich naiv, ich dachte immer man schaut am besten ein bild und in dem schauen zeigt es sich (vielleicht).
erinnerung 2
der direktor der fondation x führt eine gruppe von prominenten besuchern durch die ausstellung und redet, ununterbrochen, vor jedem bild setzt er neu an, gestikuliert, spricht laut, er geniesst es, ich nehme an, er meint, das ist den bildern angemessen, und was er sagt, ist keineswegs dumm. es sind expressionisten ausgestellt. davor stehe ich stumm und reisse das maul auf, hingerissen.
ich habe, da bin ich ganz ehrlich, noch kaum je vor einem bild den impuls verspürt zu sprechen, allerhöchstens habe ich tief durch geatmet, vielleicht sagte ich laut, schön (das sagt man heute lieber nicht, da ist man schnell ein kunst verbrecher, schön, das ist kein kriterium, schön, das ist der gipfel des banausentums).
dem baedecker bin ich in museen nicht mehr begegnet, dafür den heerscharen kopfhörerbewehrter, vor denen ich eine grosse scheu habe. die kopfhörer sind die schauprothesen von heute. in amerikanischen serien ertönt von zeit zu zeit gelächter, damit man weiss, da passiert gerade was lustiges, das ist dann schon eine gesamtwahrnehmungs- oder gehirn und denkprothese (der fortschritt).
ich meine, die rezension, die ich über den lu beitrag zur Biennale in Venedig heute morgen gelesen habe, war keineswegs intellektuell minderbemittelt oder zu eng in der darstellung, nein, im gegenteil, es gab eine reihe interessanter ausblicke und zitate und verweise. aber zwischendurch hatte ich vergessen, worum es ging und da war aufeinmal der unwiderstehliche drang zu sagen: entschuldigung, können Sie vielleicht etwas zur seite treten, damit ich …, so als versuchte ich gerade über irgendwelche baedecker oder kopfhörerbewehrte mitbesucher hinweg die eigentliche sache (vergeblich) zu erspähen.
ich will nicht sagen, dass es mir immer so geht, aber wenn ich eine kunstkritik lese, ich meine richtig zu ende lese, dann habe ich meist vergessen, dass ich vor beginn der lektüre die frage erwog, ob ich nicht das museum oder die galerie persönlich aufsuchen sollte. weil der anschein entstand, mit der ganzen rede, jetzt habe ich das werk in der tasche.
ich gebe zu, so erging es mir oft mit interpretationen von literarischen werken, die den anschein erweckten, jetzt habe ich die essenz des dings erfasst, jetzt habe ich es in der tasche und dann stellte sich bei der nochmaligen lektüre des romans heraus, dass ich (gottseidank) einer illusion aufgesessen war. das rätselhafte ding war etwas ganz anderes und jeder versuch es redend zu fassen, es mit wörtern zuzudecken, hatte in wirklichkeit ein eigenes genre geschaffen, das mit dem ursprünglichen redeanlass nur eine behauptung gemeinsam hatte. ich begriff, dass es ein eigenes spiel war, aber letzlich ein parasitäres genre, das sich immer an einen wirt anhängen muss (wie ich das gerade tue) und gelegentlich eigene kunststücke hervorbringt.
ich bin dann privat zu meiner jetzt aufgeklärteren ursprünglichen einstellung zurück , dass man, um einen roman zu verstehen, ihn am besten aufmerksam liest. ich gebe zu, dass mein bedarf an interpretationen nur noch sehr eingeschränkt ist.
ich will auf gar nichts hinaus.
anlauf II
das trauern lässt einem keine alternative, es haut einen um oder es haut einen nicht um, man kann, wenn man nicht völlig dumpf ist, auch die eigenen ausweichstrategien und hilfsmittel beobachten, jedenfalls nach einer gewissen zeit, wenn man nicht mehr völlig weggerissen wird. anfangs mag der direkte sprachliche ausdruck des erlebens eine art halt gewähren, man objektiviert das erlebte, rückt es weg, indem man wörter dafür sucht, aber das ist auch immer eine art entfernung.
mit der zeit habe ich gemerkt, dass das schreiben ein legitimes hilfsmittel war, um die wucht des gefühlten abzubremsen, nun geht es mir damit wie mit den kunstkommentaren in der zeitung, ich habe lieber das echte bild, nicht das mit kommentaren bepflasterte, so habe ich jetzt auch lieber das gefühl, selbst wenn ich mich in eine ecke verkriechen muss, wie heute zum beispiel. dann wird plötzlich das ganze ausmass des desasters sichtbar, fühlbar und es dringt langsam in die gedanken, da ist gar nichts zu machen, das hast du nun auszuhalten.
ich habe mehrere sachen über verlust und trauern angeblättert, das meiste habe ich als zumutung empfunden, aha, so ist trauern, und verlust, das geht folgendermassen. einen scheissdreck geht es, das ganze gerede ist ein bluff. ich bin nur einem begegnet, der sagte in der substanz, es bleibt dir nichts übrig, als dich mit deinem ganzen wesen der wucht des verlusts und des todes auszusetzen, das gehört verdammtnochmal zum leben dazu. es ist hart und es macht uns erst richtig lebendig, es reisst dich auf, du merkst erst jetzt richtig, was mit herz gemeint ist. ich meine, wie kann man von liebe reden, wenn man sich dem verweigert.
anlauf 3
das schliesst nicht aus, dass ich lachen muss.
heute morgen habe ich mir das gespräch zwischen einem zen mönch und einem fernsehshow menschen angeschaut. das war sehr peinlich, ich erfuhr fremdschämen in reiner form, schon wie die beiden da sassen (der eine aufrecht, imposant elegant, der andere leicht eingesackt hingeflätzt). im sitzen offenbarte sich die ganze sache, das reden der einen seite war dann nur noch peinlich.
Frage: „was bringt das?“ (das sitzen, die meditation) Antwort: „nichts.“
bei mir gehen die mundwinkel hoch, instant karma.
in diesem fall: hören und schauen.
was ist offenbarung?
anlauf 4
also nochmal, was ist ein bild, ein kunstwerk? es ist schauen, im schauen zeigt es sich, im idealfall ist es so, dass das rechte schauorgan im augenblick des schauens durch das geschaute geschaffen wird.
weswegen das reden von der sache wegführt, weil das reden, selbst wenn es von provokation redet, die provokation entschärft, das geschaute ding lahm macht, aha, so ist das.
und es ist gar nicht so.
anlauf 5
trauern ist ganz anders. lachen auch.