von einem anderen planeten, eine lesung mit Maryse Krier

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dann wollte marie nicht mehr hin, sie las tod in den augen und erschreckten gesichtern der andern, sie selber im rollstuhl und ich schob, sie sah den tod, den die andern an ihr sahen und der arbeitete sich vor, unaufhaltsam.

wenn man es einmal gesehn hat, kann man die augen der menschen in der onkologie nicht vergessen, sie suchen in den deinen einen halt, denn sie rutschen ab und du kannst ihnen keinen geben, aber hinschauen kannst du, ohne die augen abzuwenden.

marie wurde es schliesslich zuviel, sie wollte keine todes- und totenschau mehr, und die nebenwirkungen machten alles nur noch unerträglicher.

man versteht schon, warum die krankenhäuser so riesig geworden sind, eine kosten- und effizienzfrage, aber der preis ist eine konzentration von leid, leiden und schwere, eine düstere schwere, sie lastet über allem und alle handhabungen sind helfend und zugleich distant. das ist kein vorwurf, nur eine erfahrung, meistens sind die handhabungen kompetent, ohne zweifel, aber mit deiner krankheit, deinem leiden bist du allein in diesem raumschiff des leidens.

marie hat sich dann auch geweigert, es war noch etwas drauf auf dem, was schon reichte für sich.

wir lebten bis zu maries tod auf einem andern planeten, lichtjahre weg vom planeten der gesunden. es hatte nur eines kleinen rucks bedurft,  der hiess diagnose. der effekt war instant und brutal, unsere gedanken und gefühle liefen nun in ganz anderen bahnen, die neue welt ähnelte der alten in allem äusseren, das innere jedoch war so verschieden, dass es ans unbeschreibliche, nicht mitteilbare grenzt.

warum ich das schreibe?

gestern abend las  Maryse Krier aus ihrem roman „die verbleibende zeit“ und Anaïs Lorentz spielte saxophon (seit Stan Getz mein lieblingsinstrument, ich bin hingerissen nach den ersten drei tönen und spüre wie ich anfange zu wippen, es beginnt im fussgelenk und steigt aufwärts, unwiderstehlich).

zu meiner verblüffung stellte ich fest (ich habe den roman vorher nur vom klappentext gekannt, ich hätte ihn gar nicht lesen können, rein körperlich hätte sich alles dagegen gesperrt), dass ich ein zynisches verhältnis zu krankheit entwickelt habe, aus selbstschutz natürlich, und obwohl Maryse Kriers einführung in ihr buch bei mir den eindruck wachrief, es handle sich um leben, um realistischen bericht, zuerst jedenfalls, stellte sich wegen ihrer guten stimme, ihrer festigkeit und ihrer ganzen art (eine angenehm pädagogische, die mich anfangs erstaunt, je mehr die lesung fortschreitet jedoch ihren platz und sinn gewinnt) eine gewisse distanz ein, ich konnte mir sagen, es ist eine geschichte, eine realistische, aber doch eine erfindung.

natürlich sah ich auch mich, aber in einer sicheren entfernung, ich hatte schon mit dem gedanken gespielt, obwohl ich mich angemeldet hatte, ich geh doch lieber nicht hin, was ist, wenn ich die fassung verliere, das thema ist mir zu nah, wird mir auf den leib rücken und ich kann mich nicht wehren.

die diagnose wirft die menschen um die hauptfigur rücksichtslos in eine andere realität, die ärzte verkaufen hoffnung und man traut ihr nicht ganz, man ist nicht mehr in der welt der gesunden, lebenden, man lebt auf abruf nun (aber tut man das nicht immer), man leistet widerstand (er ist zwecklos), man verzweifelt (aber das ändert auch nichts), man fährt alle geschütze auf, die man hat (tut mir leid diese kriegsmetapher, aber krankheit entfesselt kriege, oft sind sie verloren, bevor sie begonnen haben), man bekommt angst, man fleht, man betet (ich habe damals das beten wieder gelernt, man braucht dazu keinen gott,  man verhandelt mit einer unbekannten kraft, wie wäre es mit meinem leben gegen ihres, aber sie, marie, fand, das sei keine alternative), dann findet man sich ab (vorher gibt es noch einige kurzschlüsse), nun ändert man sein leben.

ich sah plötzlich marie, allein, sie redet nicht, sie ruft mich nur wegen einer handhabung, einer medizin, dem licht oder wegen einem glas wasser, einer frucht, sie schweigt, ich berühre sie sanft und gehe, nun meinerseits allein im ungewissen und je schwächer und schmaler sie wird in der gewissheit, sie wird gehn und dann … und jedes mal, wenn ich in die erinnerung abzudriftete, kam die musik, die kräftigen töne de saxophons und ich atmete wieder tiefer und der impuls schnell den raum zu verlassen ging weg und ich hörte weiter zu.

Maryse Krier hat es schon genau getroffen, wie sie das gemacht hat, weiss ich nicht, vielleicht habe ich dazu, wie gesagt, ihre stimme gebraucht und die musik der Anaïs Lorentz. zuerst verengt sich der raum, er heisst krankheit und krankenhaus und arztbesuch und die welt verschwindet im schmerz und er drückt dir den hals ab und langsam, langsam taucht etwas anderes auf, vielleicht dank der musik, sie geht durch den text des romans und die lesung … dies ist keine rezension, um himmelswillen … und versöhnt, wie weiss ich auch nicht, vielleicht weil die worte rund herum gesetzt und die töne, selbst die imaginierten, wie ein trost sind, ein eingebildeter nur, ich weiss es wirklich nicht, aber als ich ging, fühlte ich mich nicht mehr so wund.

darf man das von einer lesung und einem buch sagen? ich habe keine ahnung.

ich konnte von meinem zynismus lassen, weil das buch so fein und einfühlsam ist, es redet von krankheit und hoffnung und tod und einem anderen leben, das vergessen wir so schnell, ein intensiveres, schmerzlichschönes, darin zeigen die menschen ihr gesicht.  das finde ich mutig im zeitalter des amüsements, durch das ich mich auf dem nachhauseweg schiebe, ein gewoge von menschen und ein stimmengewirr auf einem novemberweihnachtsmarkt, ein gedudel und geplärre und der geruch von glühwein und kartoffelpufferfett  und ich bin von einem andern planeten hier gelandet.

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