Da ich von subjektiven Stürmen heimgesucht werde, finde ich Zuflucht in einer wissensschaftsgeschichtlichen (was’n Wort) Studie über Objektivität (nicht bloss ein Begriff, vor allem eine recht rezente Praxis. (Lorraine Daston, Peter Galison bei Suhrkamp).
Dann schaue ich in den Garten; der Vorwurf, den ich spüre, hat mit den Katzen zu tun, die Organisation hat während meiner kurzen Abwesenheit nicht ganz geklappt und es gab einen Tag Katzenfrühlingsfasten; der Garten sieht leicht beschneit sehr schön aus und ich beginne an meinem Begriff von Schönheit zu zweifeln, denn die Magnoliablüten lassen alle die Köpfe hängen und haben bräunliche Flecken, den Forsythien geht es nicht besser, aber das Gelb hält sich und Weiss auf Grün sieht fantastisch aus. Wie gesagt, ich nehme an, mit meinem Schönheitsbegriff stimmt etwas nicht, die Apfelbäume blühen und die Kirschbäume und Kälte und Schnee sind Gift für sie.
Bin ich dabei Tod und Untergang und Vergehen zu ästhetisieren. Da ich so meine Zweifel habe, auch mein Gefallen an leicht morbiden Gefühlen (ein leichtfertiges Kokettieren mit bröckelnden Gebäuden, Mauerrissen und eine gewisse Langeweile vor geleckten Fassaden und Vorgärten in Reih und Glied, ganz abgesehen von meiner Neugier für interkulturelle Friedhofsgestaltung und meine Genugtuung angesichts des Zyklus von Werden und Vergehen und in dem Zusammenhang die doch kurze Haltbarkeitsdauer von Imperien) macht mich stutzig, lese ich ebenfalls einen Essay über japanische Ästhetik von dem Japaner Tanizaki Jun’ichirō. Sein Buch im Manesse Verlag trägt den bezeichnenden Titel „Lob des Schattens“. Auf Seite 45 stosse ich auf folgenden Satz: „und man fragt sich verwundert, wie sich an einem so dunklen Ort nur eine derart intensive Lichtstrahlung konzentrieren konnte.“
Und in dem dritten Buch, das ich auf meiner kleinen Stadtkreise in einer bemerkenswerten Buchhandlung erworben habe, begegnet mir die Aussage: „I have no shame when it comes to love: I give everything, and the more I give, the more pain is inflicted on me at the end. …All or nothing.“ Und dies in dem Buch der Psychoanalytikerin Jeanette Fischer über und mit Marina Abramovič.
Damit ist der dunkle Ort bezeichnet, an dem ich mich des Öfteren aufhalte und ich merke jetzt, dass der Schmerz am Ende keineswegs die Sache, das heisst das über drei Dekaden dauernde Leben mit Marie relativiert, im Gegenteil von dort geht eine „intensive Lichtstrahlung“ aus und erhellt plötzlich blitzartig noch die dunkelste Anwandlung. Das würde ich wohl selbst dann noch sagen, wenn der Schmerz mich langsam aber sicher kaputt machen würde.
Was er gewiss auch tut. Es ist auch der Schmerz darüber, dass ich es fertig gebracht habe, ihren Tod zu überleben. Man lebt damit in einem Raum, in dem es keine Zeit zu geben scheint. Man ist auch zu einem Teil aus allem heraus genommen, da es eine eher gewaltsame Weise war, ist das Wort „gerissen“ wohl angemessener. Der Abstand zu allem wird grösser, das ist ganz und gar unfreiwillig, es hat sich so ergeben und manchmal erschreckt es mich und manchmal finde ich es ganz angemessen.
Das Buch von Jeannette Fischer und Marina Abramovič berührt mich von meinen Lektüren am tiefsten, keine Versteckspiele beim Lesen, ja, selbst beim Lesen gehe ich manchmal in Deckung, will mich nicht anrühren lassen, will mich nicht sehen in dem Gelesenen, will mich flüchten ans Ende der Welt und mich nie mehr preisgeben, nie mehr öffnen, weil der Schmerz des Endes so furchtbar ist und andauert und wohl nie weggeht. Wer den Schmerz der Amputation schon vorher kannte (ich habe bei einem Unfall mit dem Rasenmäher den Mittelfinger der rechten Hand verloren und dachte für einen furchtbaren Moment, ich kann nie mehr in meiner Handschrift schreiben (und mit Stäbchen essen)) weiss, dass Trennung (durch den Tod) einer Amputation gleich kommt. Man ist nur noch ein Schreien, aber lautlos. Und die Schnittstelle erinnert einen, immer und wenn man nicht erinnert werden will. Und diese Hilflosigkeit ist ebenfalls furchtbar, sie geht so weit, dass man denkt, so kannst du nie mehr vor die Tür geh’n, jeder Blick eines andern wirft dich um. Zugleich ist das Gefühl, sich gar nicht und überhaupt nie mehr helfen zu können, auch befreiend, die Machtspiele, die man auch kennt, werden durchscheinend.
Man gibt sich auf, nicht weil man will, sondern weil es geschieht und im Davonfliegen wächst man über sich hinaus, man hat trotz aller Ängste keine Angst mehr.
Obwohl ich das nun alleine erlebe, rechne ich mir das nicht an, es ist eine Gabe (keine, die man freiwillig bezahlen würde) und darin erlebe ich die abwesende Marie, ich kann gar nichts dafür, ich suche es nicht auf und selbst,wenn ich das täte, ergäbe es nicht dieses Resultat, man kann die Toten nicht zwingen. Manchmal frage ich mich, ob ich es verdient habe, aber diesen Gedanken verwerfe ich sofort, er macht keinen Sinn, das Erleben ist jenseits von Verdienst und Versagen.
Ja, die Magnolienblüten leuchten orange, selbst im Verblühn sind sie schön.