einsicht hingegen sehr

I

unmutsanfall, völlig unerheblich

seltsamer virus, seltsamer ursprung, seltsame geschichten, die darum herum gesponnen werden, seltsame wissenschaftliche statements, seltsame theorien, seltsame vermutungen, ich wundere mich jeden tag, hat man doch anscheinend wirklich festgestellt, dass raucher einen vorteil haben.

mein jüngstes mantram: „ich versteh gar nichts.“

und dann schaut man gelegentlich nach china, mithilfe einer doku über das neue digtale überwachungssystem und die ereignisse im westen des reichs und wundert sich noch mehr.

im ernst, als ich das sah (die doku bei ARTE), spürte ich eine unerträgliche enge, das drückt einem die luft ab, dieses neue fortschrittliche system totalitärer menschenkontrolle mit einstufungssystem AAA bis D. die D.s sind dann das allerletzte, die dürfen glatt gar nichts. und denunziation ist eine soziale tugend. honni soit qui mal y pense, aber gabs das nicht schon mal?

da erstickt man förmlich dran.

das passt zu der neuen lungenkrankheit und dem virus aus der besten aller besten welten und dazu das gesicht des „sozialwissenschaftlers“, der das system mit entworfen hat, moral einbläuen mit knute und zuckerbrot und, so sagt er, wenn die französische regierung das system eingeführt hätte (eine kamera auf zwei einwohner, gesichtserkennung etcetera pp.), dann hätte es keine gelbwesten bewegung gegeben. dazu lächelt er dünnlippig.

kühl, sehr kühl, kalt.

und im westen preisen auch welche diese überwachung an, gesicht, mimik, gang, vielleicht sogar die stimme, check, alles gecheckt.

und erst die apps der chinesischen polizei, kontrollieren die etwas nicht?

sicherheit lautet das mantram der spezialisten, sie beten das her wie eine fromme litanei, werden argumentativ gefühlig.

das ist ein unerschöpfliches geschäftsreservoir: angst, furcht und paranoia.

und dann die virenschleuder app, die von rtl so eifrig gepuscht wird, dann weiss man doch sofort, wer… und kann sich schützen. und die sogenannten experten nicken freudig dazu. schutz, ja, sicherheit, immer, kontrolle, ja doch bitte.

ist doch alles abgedeckt durch eu gesetze und anonym ist es sowieso.

das war vor zwei tagen gegen mitternacht, als ich das hörte. vor aufregung konnte ich nicht einschlafen.

wenn hier noch ein paar kameras mehr aufgebaut werden, gesichterkennungs software compatibel, dann lockt das keinen müden hund hinterm ofen hervor.

ein junger abgeordneter, den ich auf das thema ansprach, sagte mir, für die meisten sei das gar kein thema.

die leute gewöhnen sich daran, sicherheit first, und „ich habe nichts zu verstecken“.

es gibt höchstwahrscheinlich schon welche, denen man viren kameras verkaufen könnte, mit denen checkst du nicht nur, wer den virus hat (die typische leichte kräuselung am linken ohrläppchen) sondern auch, ob dich gerade einer verfolgt, um dich zu infizieren.

mit kameras wird das leben so sicher, dass keiner mehr stirbt. allerhöchstens noch als kollateral schaden bei der angemessenen medikamentösen bombardierung von viren.

ich schaue dann immer sofort in den garten, ob die sträucher und bäume noch da sind.

es gibt für alles gute gründe und wenn wir die freiheiten etwas beschneiden müssen wegen der sicherheit, dann wird das leben lustiger und schöner. doch? doch nicht?

kontrollwahn.

deshalb wahn, weil die ersprochene sicherheit nie ausreichen wird, es wird immer noch unsicherheit geben, höchstwahrscheinlich nimmt sie sogar zu und das leben ist kein leben mehr: freilandhaltung dagegen, der ganze verein eine einzige zelle, ein camp, ein digitales kz und wir singen ein loblied auf die, die uns das beschert haben. heil…

„ça fait un peu muselière“ A. Sch.

zum trost lese ich eine abhandlung über die geologischen und klimatischen umwälzungen und cataclysmen auf diesem planeten. meteoriten, vulkanische aktivitäten, bumms, aus und neubeginn.

ich finde jedenfalls, das zusammentreffen (auch geografisch) dieses virus und der überwachungswelle, pardon, der sicherheitsbemühungen und -wünsche hat synchronistischen charakter (sinnige gleichzeitigkeit, wenn auch nicht kausal).

birkengesäusel im abendwind, baumkronentänze, fernes kindergeschrei.

ich suche keine gewissheiten mehr ausserhalb.

II

weiss man je, wohin man geht

„Wie waren sie zueinander gekommen?

Von ungefähr, wie das gewöhnlich der Fall ist.

Wie hiessen sie?

Was kann euch daran liegen?

Wo kamen sie her?

Aus dem nächtsgelegnen Orte.

Wohin gingen sie?

Weiss man je, wohin man geht?“

so geht der anfang von Jacques le fataliste.

zur Tröstung und Stärkung.

III

und nun das positive

das ist selbstverständlich kein zufall, dass man gerade auf solche dokumentationen stösst, die einem aufs gemüt schlagen. „stehenlernen“ sei wichtig angesichts von herausforderungen und krisen, lese ich, aber manchmal hauts einen um und man steht wieder auf, leicht zerzaust.

und nun das positive.

bei meiner besorgung heute morgen bin ich keinem menschen begegnet? doch, nebenan hantierte eine frau in der garage, sie schaute flüchtig her, sonst maskierte von weitem, kaum autos, ein wenig baustelle, drei arbeiter stehen zusammen, lachen, dem einen hängt die maske schlapp unterm kinn, wie mir, die anderen tragen keine. ich muss auch lachen.

hätte ich die etwa denunzieren müssen, zum autofenster hinaus zur virenordnung rufen müssen. seltsam, schaue ich etwa schon misstrauisch, ob nicht irgendwo eine kamera. habe ich was zu verstecken.

das katholisch anerzogene schlechte gewissen pocht leicht an, sündenerforschung.

habe ich micht ungebührlich über die maskenträgerei lustig gemacht, verdächtige schriften gelesen, videos geschaut, die eben nicht ganz katholisch waren, unwissenschaftliche behauptungen, gar verschwörungstheorien zur kenntnis genommen, verbreitet, allein oder mit anderen.

gelästert.

kritisiert.

hohe führungskräfte in frage gestellt.

sozial schädliches verbrochen.

gelacht, wo es doch um eine ernste lage geht.

etwa auch noch über den tod geredet.

bier getrunken: „mort subite“, eine exzellente gueuze lambic.

wehrkraftzersetzung ist das.

IV

kein spannungshoch bitte

die moderne gedankenführung: als ich den begriff höre, muss ich lachen.

man führt einen gedanken dreimal um den block und macht dazu ein wichtiges gesicht, bedeutend, tief und ganz der sache angemessen.

himmelherrgott, das schwein quietscht, so ungefähr. was wird nicht alles geredet und kommentiert, neuerdings mit dem schwerpunkt neuer schuldenberg, jemand sagt, das kommt mit keiner steuererhöhung wieder rein, mit keiner austeritätsmassnahme. uff, denkt man da und bleibt doch äusserst skeptisch.

man geht sozusagen als lebendes fragezeichen herum.

man versteht noch immer nichts.

man fragt sich, sterben leute nur an dem virus heute. was ist mit den anderen toten, warum werden die nicht auch jeden tag gezählt.

man sieht die ganzen maskierten und muss wieder lachen. es könnte auch ein weinen sein. aber lieber lachen, es ist schon fast automatisch, dass man lacht und nicht weint.

man versteht noch immer nichts, aber man tut so, liest die neuesten meinungen, nimmt die fakten zur kenntnis. wenn jemand eine bedeutende miene macht, heisst das noch lange nicht, dass der inhalt des gesagten auch so ist.

fast ist man des lesens von bedeutenden meinungen schon müde.

man ist überhaupt müde, etwas anderes zu hören, als das, was sich auf das naheliegnde bezieht.

man flucht, wenn der nachbar schon wieder die gänseblümchen rasiert. wegen dem geräusch, man sagt sich, das ist wie ein zu lauter haartrockner.

die raben, drei an der zahl, fressen schon morgens um sieben den andern das futter weg. raben sind ungemein intelligente und geschickte tiere. es hat auch schon revierkämpfe gegeben.

ein ordentlicher rasen sieht hier wie rasiert aus. wenn das geräusch des rasenmähers verstummt, ist man erleichtert.

die birken bewegen sich nicht sehr viel, es ist wie ein vibrieren, zittern ist schon wieder zu stark als ausdruck.

aber das ändert sich schnell, nun rauschen und zappeln sie in der brise. windbewegte wipfel rundum.

ich mag nur geschichten, in denen nichts passiert, die also gar keine geschichten im üblichen sinne sind? ich empfinde die erzählerische spannungskurve als zumutung, was tischt der mir wieder für einen horror auf, horror, ja, denn ohne den einbruch von etwas unheimlichem scheint es gar nicht zu gehen.

die realität hat solche einbrüche genug auf lager, denke ich, man braucht keine geschichte, in der der autor mit einer peripetie die ganze spannung kaputt macht, die eben darin besteht, dass nichts besonderes geschieht.

was heisst, ich habe am liebsten beschreibungen von alltäglichkeiten, das auf hundert seiten hinzukriegen ist echte kunst. aber mit der meinung stehe ich wohl allein. wenn ich merke, dass gerade in der geschichte auf eines dieser spannungshochs zugetrieben wird, höre ich mit dem lesen auf.

ich denke dann, ob solche autoren meinen, das leben halte einem zu wenig schweinereien, unerwünschte zwischenfälle und katastrophen parat. langweilen die leute sich mit ihrem leben, frage ich mich dann, haben die noch nie jemanden sterben sehen und vorher, haben sie sein leiden nicht zur kenntnis genommen und die erschrockenen gesichter von freunden, bekannten und verwandten. ist der tod nicht genug schweinerei.

ich denke meistens, wunderbar, diesmal habe ich ein buch erwischt, in dem gar nichts passiert ausser dem, was leute so alltäglich tun, aber nein, spätestens um die mitte herum wird eine kaltwetterfront aufgebaut und man weiss sofort, das steuert auf einen heftigen crash zu. obwohl das in dem letzten buch, das ich gelesen habe, noch ganz anders dargestellt ist, irritierend, aber interessant, so dass ich dann doch meine zustimmung nicht verweigern kann. obwohl das, was ich als crash bezeichnet habe, in diesem buch auch ein wenig an den haaren herbei gezogen ist, durchwachsen eben.

ich merke natürlich, was so eine geschichte in mir alles aufwühlt, was auch nur so eine redensart ist, weil ich nämlich feststelle, dass ich nicht aufgehört habe, aufgewühlt zu seinauf, weil ich Marie habe sterben sehen und weil ich nichts machen konnte. deshalb habe ich seither mit diesem üblichen erzählerischen spannunsgbogen nichts mehr am hut. sofort muss ich an marie denken, wie sie da liegt, so furchtbar abgemagert und mich mit grossen, furchtbar erschrockenen augen ansieht. ich weiss noch immer nicht, ob das erschrecken nicht alleine bei mir war und ich das dann in ihren augen gesehen habe. mir sitzt nach zwei Jahren der schreck noch immer in den gliedern, weil das leben, das man so geführt hat, plötzlich weg ist, von einem tag zum andern und das merkt man erst nach einer gewissen zeit, wenn die krankheit offensichtlich wird und das hört dann auch gar nicht mehr auf und der tod setzt gar keinen schlusspunkt, sondern ist der anfang davon, dass alles über den haufen fällt, vor deinen augen zerfällt das ganze leben und du kannst gar nichts machen.

deshalb ist diese ganz pandemie geschichte gar nicht so umwerfend für mich, denn bei mir hat das umwerfen seit zwei jahren gar nicht mehr aufgehört.

auch wenn ich halbwegs verstehe, warum ich in meiner freiheit eingeschränkt bin, so verstehe ich es andererseits überhaupt nicht, ich muss mir jeden morgen von neuem sagen, dass es so ist. das ist das peinlichste an der ganzen sache.

ich finde das maskiertsein passt sehr gut in unsere zeit. ich habe zwei sachen darüber zur kenntnis genommen und setze die links (hier und hier) dazu der einfachheit halber her.

was jetzt ganz schön gestört ist, das ist die auffassung von normalität und so muss es sein, es geht gar nicht anders und ähnlicher schwachsinn. man lernt nun auch sehr schön mit dem eigenen unverständnis zu leben.

da man ziemlich auf sich selbst zurück geworfen ist, es sei denn man kippt sich zu, der möglichkeiten sind es ja etliche, kommen neben angenehmen zügen der gesellschaft mit sich selbst, auch die ganzen ängste und unzulänglichkeiten und unzufriedenheiten sehr scharf zum vorschein. manchmal empfindet man sich selber als angenehme anwesenheit, aber ebenso gut auch als die allerletzte gesellschaft, die man freiwillig nicht aufsuchen würde.

manchmal heisst es dann, du hättest mehr aus deinem leben machen können, aber wenn man dann nachfragt, na, was denn, kommt keine gescheite antwort.

eventuell sagt man sich auch an manchen tagen, wie der protagonist des kürzlich gelesenen romans, „vielleicht ist das leben ein einziger verhau“.

was ungemein hilft, ein solches tief zu überwinden, ist das anschauen von bäumen und das sitzen in einer stille ohne den üblichen zivilisationskrach.

dass es sich so langsam, langsam wieder ändert, habe ich heute morgen einer autosirene abgehört, die mehrmals hintereinander losgelegt hat. ausserdem ist der geräuschpegel deutlich angestiegen, aber längst noch nicht auf dem vorigen niveau.

in der momentanen ausnahme sind alle hoffnungen und wünsche hochgekocht, aber die frage ist, was wird sich tatsächlich anders entwickeln.

ich habe noch nicht endgültig entschieden, was ich als nächstes lesen werde, aber ziemlich sicher wird es das buch über den wald sein.

ich denke zum trost bei einem espresso von Knopes*, dass unsere präsenz auf diesem planeten eine sehr vorläufige ist.

V

einsicht hingegen schon

es ist manches so schief, dass man denkt, da lässt sich gar nichts machen; es ist nicht nur unordentlich, sondern ganz durcheinander geraten. und in diesem klima gedeiht einiges.

ich denke dann, wenn ich mir das durcheinander anschaue, ist es nicht auch in dir genauso. ziemlich chaotisch.

natürlich ist die ausnahme wie ein druckkochtopf.

die schwachpunkte des eigenen systems springen dir in die augen. man merkt aber auch, dass man sie insgeheim sehr genau kannte und sich deswegen auch gestresst hat. man hat sich den kram vorgeworfen.

dass man so ist und nicht anders,dass man sich nicht ohne schaden zwingen kann anders zu sein. wegen wem oder was übrigens. die illusion, wäre man ein anderer, dann …

und nun lernt man mit der bescherung zu leben. dieses lernen hat im übrigen gar nicht aufgehört, seit Maries tod hat eine einzige grosse lernerei nie aufgehört.

ich habe heute den eindruck, sie hat mir dabei geholfen.

mir vorzustellen, gesehen zu weden, sozusagen von allen seiten und dabei den spruch zu hören, den ich schonmal aufgeschrieben habe: „ist ja schon gut, mein lieber“.

da hat man doch ein lebenlang was beweisen wollen, sich und den andern, wegen den andern, so hat man gedacht, jedenfalls gehandelt, und nun darf es gut sein.

resignation ist nicht so mein ding, einsicht hingegen schon.

*das ist eine unbezahlte reklame

Ein Gedanke zu “einsicht hingegen sehr

  1. Wundervoller Text, in Schleifen vom Hier zum Dort, in einem Rutsch gelesen und ein paar Substantive mitgenommen – von der Sündenforschung zu den Sicherheitsbemühungen, und der Sorge, ob die Bäume noch vorm Fenster stehen, wenn man sie wie Gänseblumen mäht – gedanklich – musste ich in mich hineinlachen, und wundere mich, wo du hinwillst mit deinen schönen Webflächen. Aus meinem Alltagsrausch herausgefallen, setze ich mich mal als stummer Gast in deinen Garten und warte, ob der Nachbar noch eine Ecke vergessen hat zu mähen. Die Ordnungsfleißigen und Selbstbemühten und Distanzen Überwindende kraft ihrer motorengetriebenen Wut. Vor meinem Fenster auch gerade ein staubsaugender Wasserwerfer die Rindsteine bespült. Ja der Geräuschpegel nimmt wieder zu. Die Virenimpulsgeber wohl auch. Ich war gerade im Supermarkt, vorgestern noch entspannte Leere, jetzt schon wieder gehetztes Jagen – auf Abstand gehalten durch Wegmarkierungen, Einbahnstraßensysteme im Center, vier Stufen Abstand auf der Rolltreppe gefordert, die dir Entgegenkomenden haben vielleicht zwei Meter Fahrtwind neben und hinter sich, tiefgeduckt blase ich ihnen meine Angst entgegen, und fürchte auch, dass ich mehr aus meinem Leben hätte machen können. Beste Grüße in den Blumenwald. Oder in Gedanken dreimal um den Block.

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